… vor 150 Jahren geboren, in den 1920er Jahren gewirkt, erneut hochaktuell …
‘Sorgenkinder’ – nur wer sie versteht, kann ihnen helfen
Erziehungsprobleme, Unterrichtsstörungen – der individualpsychologische Blick ist bei “Sorgenkindern” deshalb so hilfreich, weil er nicht oberflächlich ist, aber auch nicht unnötig in der Tiefe bohrt. Für Alfred Adler war ein ‘störendes’ Kind einfach ein mutlos gewordenes – das sich allerdings an ein ungünstiges Kompensationsmuster gewöhnt hatte.
„Man kommt weiter, wenn man nicht mit den Kindern kämpft, sondern ihre Muster wohlwollend durchschaut – und ihre Energie in nützliche Bahnen lenkt.“
In vielen Fallstudien Adlers entpuppt sich die ‘Störung’ nämlich als die vermeintlich bewährte ‘Lösung’ des Kindes, als ein Ersatzweg vom Minus zum Plus. Ein Schüler, der dauernd reinruft, bekommt ja Beachtung – wenn auch negative; ein anderer, der dem Lehrer ständig die Führung streitig macht, erlebt Geltung immerhin im Kampf; wer seine Mitschüler plagt, kann zumindest deren Erfolg dämpfen – und wer faul ist, erlebt wenigstens schon mal kein Scheitern.
Ungeschulte Lehrer geraten mit ‘Störern’ schnell in einen Teufelskreis. Sie reagieren abwehrend oder konfrontativ auf das Kind – und verstärken so dessen inneres Minus. Wer aber gelernt hat, solche kompensatorische Dynamik wohlwollend zu durchschauen, der kann auch ‘harten Jungs’ wirksam aus ihrer (letztlich ja unverschuldeten) Patsche heraushelfen, kann destruktive Muster durch beharrliche Ermutigung und clevere Erfolge entschärfen.
Alfred Adler war ein Meister des feinfühligen Erkennens solcher seelischen Dynamik bei Kindern – und des behutsamen Aufweichens ungünstiger Haltungen. Man könne einem Menschen erst dann wirklich helfen, wenn man die Dinge aus seiner Logik heraus betrachte – und ihn dann auf etwaige Irrtümer hinweise oder ihm passende Auswege anbiete.
Auch ratsuchenden Eltern oder Lehrern begegnete Adler nie mit Kritik – “selbst dann nicht, wenn Gründe dafür vorliegen. (…) Wir müssen sie veranlassen, einen neuen Weg zu gehen. (…) Man muss sie vor allem entlasten.” Bisweilen dürfe man Eltern gar sagen, sie seien bereits auf dem richtigen Weg, auch wenn man vom Gegenteil überzeugt sei; aber das beruhige sie und mache sie für eine neue Sichtweise auf das Kind und das familiäre Beziehungsnetz empfänglicher.
Adler stellte hohe Anforderungen an den Berater: Er selbst müsse die Diagnose stellen, könne sie nicht vom Ratsuchenden erwarten – und müsse gleichwohl vorsichtig damit umgehen, solle das bei den Beteiligten entstandene Zerrbild mit wenigen Worten zurechtrücken:
„Das Wichtigste ist, den Kernpunkt zu erfassen – aber nicht
gleich alles, was man weiß, der Mutter an den Kopf zu werfen.“
♦ Individualpsychologischer Fragebogen (Teil I – Kinder verstehen, Teil II – Erwachsene verstehen) ♦
Ermutigung als Schulprogramm
Lehrerkollegien beklagen immer wieder den geringen Nutzen der verbreiteten OE-Praktiken von Schulentwicklung.
Eine interessante Alternative eröffnet die ehem. Schul- und Hauptseminarleiterin Beate Letschert-Grabbe. Sie beschreibt, wie eine Brennpunkt-Grundschule ihr pädagogisches Konzept an der Individualpsychologie ausrichtet – und welchen Gewinn Kinder, Eltern und Lehrer davon haben.
Einen ‘Störenfried’ ‘knacken’ – historisches Beispiel eines Adler-Schülers
Der Lehrer Alfons Simon beschreibt den Fall des Sechstklässlers Max, der ihn in den 1950er Jahren schnell an seine Grenzen führte. Er stiftete überall Unruhe und Streit, bekam Wutanfälle, zerstörte Materialien seiner Mitschüler. Weder mit Gesprächen noch Mahnungen oder Drohungen war ihm beizukommen, und spätestens nach einem brutalen Angriff auf eine Dreijährige sah der Novize sein Konzept der Güte gescheitert. Aber auch der Griff zum Rohrstock hinterließ nicht mehr als mörderisches Geschrei.
Der hinzugerufene Schulberater empfahl herauszufinden, warum dieses Kind derart große Nachteile für sich selbst in Kauf nehme, ja geradezu herausfordere. Der Lehrer ermittelte durch sorgfältige Recherche, dass Max als ungeliebtes Kind aus einer gescheiterten Ehe stammte, dass seine Mutter ihn zeitweise weggegeben hatte, dass er später neben einem jüngeren Bruder großwerden musste, den die Mutter symbiotisch liebte.
Er begann zu erahnen, dass Max die Welt so kennengelernt haben musste, dass er der letzte Dreck für andere sei – und dass er sich nur schadlos halten, zumindest ein wenig Befriedigung erlangen könne, wenn er sich für die erlittene Unbill bei anderen rächte.
In Max’ Fall richtete der Lehrer zunächst eine Schonzeit für den Jungen ein – er stellte kaum Anforderungen an ihn, kratzte also nicht weiter an seinem Minderwertigkeitsgefühl. Sodann bot er ihm die (damals höchst ehrenvolle) Aufgabe an, täglich das Rad des Lehrers in den Keller zu bringen und wieder herauszuholen. Schließlich begann er, behutsam Max’ Stofflücken zu füllen – in einigen Pausen oder nach dem Unterricht. Und als Max einmal länger ins Krankenhaus musste, gelang es ihm, die Klasse als Überbrückungshelfer zu gewinnen: Abwechselnd berichteten sie Max vom Unterricht und den Aufgaben. Gleichzeitig versuchte der Lehrer, das Herz der Mutter auch für diesen Sohn zu erweichen. Nach etwa einem Jahr hatte sich Max so weit beruhigt und gefestigt, dass er probeweise in die nächste Klasse aufrücken konnte.
Max ist weder mit Reflexionsbogen überfordert noch mit Smileys bestochen worden – und es wurde auch keine zeitfressende, womöglich frontenverhärtende Disziplinarkonferenz einberufen. Stattdessen lernte sein Lehrer, das provokante Verhalten tiefenpsychologisch einzuschätzen – nämlich als nicht böse, sondern nachvollziehbar zielstrebig. Er wagte es auch, trotz Max’ starker Affekte an den richtigen Stellen fürsorglich zu reagieren – nur so vermochte der Junge von seinem bisherigen Muster abzulassen und sich sinnvoller als gewohnt zu verhalten. Über längere Zeit und mit steigender Anforderung konnte sich dann ein neues Bewältigungsmuster einschleifen – nicht per Belohnung oder Strafe, sondern durch psychologische Deutung, pädagogische Führung und soziale Gewöhnung.
(Die gesamte Entwicklung von Max nachlesen: im Buch [Reprint 2015] oder hier)
♦ Was ‘schwierige’ Schüler für ‘normale’ Lehrer interessant macht – von A.S. erklärt hier
♦ “Selma tobt” – unverstandene Kinder erzeugen Dramen … und wie es anders gehen könnte
♦ “Was Kinder in der Schule brauchen” … Individualpsychologie statt Kapitulation der Pädagogik
♦ “Eigentlich gar nicht so schwierig” … wie Adler mit Sorgenkindern sprach
Schülersorgen heute – überraschende Einsichten und gangbare Auswege
Eine ehemalige Grundschulleiterin zeigt in 10 feinfühlig kommentierten typischen Szenen: So schnell verfehlen Eltern und Lehrer kindliche Entwicklungsbedürfnisse. Und so leicht kann es sein, Kinderäußerungen individualpsychologisch zu deuten und sinnvoll aufzugreifen.
# “Das schaffst du schon!” ist schnell gesagt – und kann ziemlich entmutigen.
# Hinter “Ich will” steckt oft “Eigentlich brauche ich”.
# Dauernd “Super!” irritiert – interessiertes Echo oder ermutigende Kommentare nicht.
# Muss das so sein, dass Kinder mehr eigene Schwächen als Stärken kennen?
# Verwöhnen ist eigentlich vernachlässigen.
# Wer nicht stört, wird schnell übersehen – dabei braucht er uns vielleicht besonders.
# Die Geschwisterkonstellation prägt die Lebensbrille
Abschließend: So kann Lehrerfortbildung weiterbringen – eine Skizze
Inhalt und Leseprobe Rezensionen
“Medizin statt Pädagogik” – innere Konflikte abdecken oder auflösen?
Immer mehr Schüler scheinen sich mit gemeinschaftlichem Lernen schwer zu tun. Nötig wären vermehrt Pädagogen, die Nachreifung ermöglichen. Stattdessen beobachtet man eine Zunahme psychiatrischer Diagnosen und Pharmarezepte. Eliane Perret zufolge begünstigen neurobiologisch-genetische Theorien und das Paradigma numerischer Überprüfbarkeit eine unheilvolle Entwicklung im Umgang mit Sorgenkindern und Problemschülern – denn jede Akte hinterlässt innere Spuren beim Kind.
Kommentar NZZ 2024 Artikel Zeit-Fragen 2024 Gastbeitrag Condorcet
Treffend deuten, gekonnt ermutigen
Wer Störungen des Unterrichts nur eliminieren will, bleibt an der Oberfläche, greift meist zu kurz, verstrickt sich gar in Teufelskreise. Das eigentliche Problem des ‘schwierigen’ Schülers muss erkannt, ein individuell passender Ausweg gefunden werden.
Eine Lehrerin beschreibt gekonnt tiefenpädagogische Alternativen – zu hemdsärmeligem Umgang mit störendem Verhalten und heiklen Unterrichtssituationen. Die zahlreichen Fallbeispiele und Reflexionen lassen Störungskompetenz und Führungssouveränität wachsen.