… vor 150 Jahren geboren, in den 1920er Jahren gewirkt, erneut hochaktuell …
Bild: DGIP-Archiv Gotha
GLÜCK
“Jeder Mensch sieht seine Probleme aus einer Perspektive, die seine eigene Schöpfung ist.”
Wenn etwas für uns im Leben schief läuft, sehen wir die Verantwortung spontan gern beim Gegenüber – die blöden Anderen, die misslichen Umstände …
Adler zeigte an vielerlei Beispielen, dass jeder von uns die Wirklichkeit durch eine Brille sieht, die er im Laufe der ersten Lebensjahre (“Charakterbildung”) erworben und entwickelt hat. Dieses Wahrnehmungsmuster (“Apperzeptionsschema”) dient dazu, sich innerlich abzusichern, sich vor dem Eindruck möglichen Unterlegenseins oder Nichtdazugehörens zu bewahren. Auch mit seinen typischen Verhaltensweisen (“Lebensstil”) verfolgt ein Mensch stets das Ziel, ein subjektiv positives Geltungserleben zu schaffen.
Nähme man die eigene Lage hingegen unbefangener in Augenschein – etwa aus der Sicht anderer Beteiligter oder eines neutralen Beobachters -, ließe sie sich womöglich ganz anders interpretieren, würde sich vielfach eine gar nicht so schwierige Lösung eröffnen. Das ist gemeint, wenn die Autoren des aktuellen Adler-Bestsellers aus Japan pointiert formulieren: “Die Welt ist eigentlich einfach, und das Leben ist es auch.”
Bild: Bildarchiv der ÖNB, Wien, für AEIOU
WER BIN ICH EIGENTLICH ?
„Vergessen Sie nicht die wichtigste Tatsache, daß nämlich nicht Vererbung und nicht das Milieu die entscheidenden Faktoren sind. Beide bilden lediglich den Rahmen und die Einflüsse, auf die das Individuum je nach seiner ihm eigenen schöpferischen Art reagiert.“
Warum ist bzw. wie wird der Mensch der, der er ist? Adler hielt den Glauben an ererbte Grenzen der Entwicklung nicht nur für nichtzutreffend, sondern auch für verhängnisvoll – weil er Lehrern und Eltern die Möglichkeit verschafft, etwaige Irrtümer wegzuerklären und in ihren erzieherischen Bemühungen nachzulassen. Aber auch die Annahme, alle Eigenschaften eines Menschen seien durch seine Erziehung geprägt bzw. prägbar, führt in die Irre – und bürdet Eltern zudem jede Menge Schuldgefühle auf. Heute neigen viele zu einer Art Mischhypothese – 80 : 20 sagen die einen, fifty-fifty die anderen.
Alfred Adler sah das Seelische des Menschen weder als reines Produkt seiner Gene noch als pures Objekt seiner Lebensbedingungen – seine Beobachtungen hatten eine dritte Einflussgröße nahegelegt. Die Psyche sei von Lebensbeginn an ein individuelles und aktives, sich dabei entwickelndes dynamisches Organ, der Mensch somit ein nicht völlig freies, aber auch keineswegs total determiniertes Subjekt. Der Charakter (“Lebensstil”) des Menschen bilde sich in quasi künstlerischer Weise (“schöpferische Kraft”), er sei ein zunehmend gerinnendes Muster von Gefühlen und Verhaltensweisen (“Lebensschablone”), das dem Individuum scheinbar Sicherheit und Geltung verspreche.
Der Mensch, kein zwingendes Resultat von Veranlagung und Milieu, sondern ein einheitlich und zielgerichtet agierendes Wesen (“Finalität”) – das wirft ein neues Licht auf einen selbst wie auch auf andere …
ERZIEHUNG
“Das Schönste, was eine gute Fee einem Kind in die Wiege legen könnte, sind Schwierigkeiten, die es überwinden kann.”
Wer sein Kind liebt, der züchtigt es – diese Haltung gilt mittlerweile als überholt. Wer heute seinem Kind Gutes tun möchte, versucht ihm das Leben möglichst leicht zu machen – man erspart ihm Konflikte, man schafft Belastungen aus dem Weg.
Alfred Adler hat diese Erziehungshaltung als seelische “Verzärtelung” oder auch “Verwöhnung” bezeichnet – und sehr kritisch gesehen. Er wies darauf hin, dass Kinder auf diese Weise geschwächt und zugleich anspruchsvoll werden – jedenfalls gerade nicht glücklicher. Was Kinder stark macht, ist einerseits soziales Aufgehobensein, andererseits Mut und Zuversicht. Diese Eigenschaften wachsen aber am ehesten unter Belastung und Bewährung – ähnlich dem Training eines Muskels.
Kinder nicht zu verwöhnen, sondern an Herausforderungen reifen zu lassen – das erscheint gerade dann besonders schwierig, wenn die materiellen Lebensumstände gut sind, wenn sich die Fürsorge auf ein Kind konzentriert oder Schuldgefühle im Spiel sind …
Bild: www.monadrei.de
SORGENKINDER
“Der böse Wille ist niemals der Beginn, immer die Folge von Entmutigung. Wir haben keinen Anlaß, diesem bösen Willen zu zürnen, es ist ein letztes Aufraffen, wenigstens auf der schlechten, unnützen Seite des Lebens sich irgendwie hervorzutun, sich zumindest unangenehm bemerkbar zu machen.”
Wenn Kinder ‘schwierig’ sind, wenn sie chronisch mit den Eltern streiten oder im Unterricht andauernd querschießen, liegt es nahe, dass der Erwachsene das störende Verhalten abzustellen, zu unterbinden sucht. Daraus ergeben sich aber häufig Teufelskreise.
Alfred Adler kam aufgrund vieler Fallstudien zu der Überzeugung, ein Störenfried wolle eigentlich gar nicht stören, er wolle letztlich nichts lieber als erfolgreich sein und sich in Klasse oder Familie dazugehörig fühlen. Er traue sich dies aber zu wenig zu und habe es sich nun angewöhnt, zur Sicherung seiner Geltungsbedürfnisse einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen: besondere Aufmerksamkeit erregen, mit dem Lehrer kämpfen, Mitschüler plagen.
Man könne solche Kinder aber auf eine konstruktivere Bahn bringen – indem man nämlich zunächst ihren inneren Sicherungsmechanismus wohlwollend durchschaue (‘die tatsächliche Störung als subjektive Lösung sehen’), sie dann behutsam zu kleinen Erfolgen ermutige und somit allmählich neue Reaktionsschablonen anbahne.
Ein Kind, das ‘stört’, ist aus individualpsychologischer Sicht nichts weiter als ein Kind, das mutlos geworden ist! Gerade für heutige Lehrer bilden die Fallschilderungen Adlers und seiner Schüler (Rudolf Dreikurs, Alfons Simon etc.) denn auch ein reichhaltiges Reservoir, pädagogisches Feingefühl und Störungskompetenz im Unterricht zu schulen …
Bild: Human Encouragement Institute CH-8260 Stein a. R.
KRIEG
“Dieses Volk war unmündig, hatte keine Richtungslinien und keine Führer. Keiner sagte ihm die Wahrheit. Seine Schriftsteller und Zeitungsschreiber standen im Banne oder im Solde der Militärmacht.”
Krieg ist immer ein Verbrechen – so empfinden die meisten Menschen spontan. Deshalb müssen Kriege gerechtfertigt werden – indem der Anschein von Bedrohung oder Tyrannei erweckt wird (‘Jeder Krieg beginnt mit einer Lüge’). Die eigene Bevölkerung soll dazu gebracht werden, einen militärischen Angriff gutzuheißen – als notwendige Abwehr oder humanes Eintreten für bessere Werte.
Alfred Adler war ein ungewöhnlich politisch denkender Psychologe. Er zeigte am Beispiel des Ersten Weltkrieges, wie soziale Regungen der Menschen (“Gemeinschaftsgefühl”) von kriegsinteressierten Kräften missbraucht wurden: mittels parteilicher Presse, unterstützt von obrigkeitsgläubigen Intellektuellen, begünstigt durch allgemeine politische Unaufgeklärtheit. Auch die Existenz sog. ‘Kriegsfreiwilliger’ spreche nicht gegen die generelle Ablehnung des Krieges in der Bevölkerung: Entweder “suchten sie in ihrer Not das geringere von zwei Übeln” (also etwa einen relativ sicheren Posten) oder es handelte sich um sozial “Entgleiste”, die sich so privaten Unannehmlichkeiten zu entziehen erhofften.
Bild: getty images
LIEBE
“Vergesst bitte nicht, daß die Ehe eine Aufgabe ist, an der ihr beide mit Freude arbeiten müsst. Erlaubt einander nicht, dass einer sich dem anderen unterwirft. Keiner kann diese Haltung aushalten.”
In Zeiten schier unbegrenzter Glückserwartungen an Liebe und Partnerschaft eine geradezu mehrfache Provokation: Liebe, eine Aufgabe? Nicht Genuss, sondern Arbeit? Und das auch noch mit Freude – und gleichwohl als Muss?
Alfred Adler vertritt die Auffassung, dass das verbreitete Abkühlen oder gar Versiegen der Zuneigung in engen Beziehungen kein Schicksal ist; dass Paare es vermeiden können, sich trotz guter Passung vorzeitig zu trennen oder resigniert zu arrangieren. Für ihn ist die Zweierbeziehung die intensivste Form zwischenmenschlicher Kooperation – sie könne aber auf Dauer nur gelingen, wenn sie immer wieder neu mit Inhalt gefüllt, aktiv gestaltet und (da beide Partner sich auch weiterentwickeln) nachjustiert wird. Als Grundhaltung empfiehlt Adler dabei, „stets mehr an den anderen zu denken als an sich selbst“, also Geben und Interesse in den Vordergrund zu stellen – statt Erwartungen und Ansprüche.
Gleich, ob man von Ehe, Liebe oder Partnerschaft spricht: Mit individualpsychologischem Blick ist vielfach mehr drin als es zunächst scheint …
Gesamttext von Adlers Hochzeitswidmung
Bild: Rowohlt-Verlag/Alexandra Adler
GESCHWISTER
“Es ist ein allgemeiner Irrtum anzunehmen, daß Kinder derselben Familie von derselben Umgebung geprägt werden.”
Wieso? Kinder derselben Familie haben doch – zumindest in ihrer Prägungsphase – die gleiche Mutter, den gleichen Vater, das gleiche Erziehungsklima, den gleichen Verwandten- und Freundeskreis!?
Allerdings: Zunächst einmal ist kein Kind von Geburt aus wie das andere. Sodann nehmen Mutter und Vater zu jedem Kind eine eigene Haltung ein, entwickeln eine je spezifische Beziehung. Vor allem aber sieht der familiäre Kosmos aus der Sicht jedes Kind vollkommen anders aus.
Das älteste Kind etwa war das erste Kind der Familie; die Eltern waren vielleicht noch unsicher, und es war eine Zeitlang das einzige – bis ein Geschwister geboren wurde. Die massive Hinwendung der Mutter zum Neugeborenen wird vom Erstgeborenen aber vielfach als Abwendung erlebt (“Entthronung”) – und dieses Erleben kann das weitere Lebensgefühl tief prägen. ‘Älteste’ fühlen sich dann später schnell missverstanden oder zu wenig beachtet. Sie zeigen oft aber auch besonderen Ehrgeiz – als Größere konnten sie sich früher durch größeres Können vom vermeintlichen Rivalen absetzen.
Oder nehmen wir das jüngste Kind. Es muss die elterliche Zuwendung mit niemand Neuem mehr teilen, ja es wird womöglich besonders verhätschelt. Gleichzeitig ist es stets von einer Vielzahl Größerer umgeben, die alles schon besser können als es selbst – und an ihm mit herumerziehen. Auch diese Situation ergibt eine spezifische Lebensbrille. Bei ‘Jüngsten’ findet man häufig die Neigung, sich im Vergleich mit anderen als schwächer einzustufen, sich zurückgesetzt zu fühlen. Unter bestimmten Umständen entwickeln ‘Jüngste’ aber auch den Ehrgeiz, ihre Geschwister auf bestimmten Gebieten zu überholen.
Auch andere Geschwisterpositionen haben ihr Typisches: Das Mittlere von drei Kindern (“Sandwich”) gerät nicht selten – zwischen der Eifersucht des Ältesten und der Verhätschelung des Jüngsten – zwischen die Räder der elterlichen Aufmerksamkeit. Solche Kinder können dann zu dem Eindruck neigen, von der Welt übersehen zu werden. Einzelkinder wiederum standen zwar stets im Mittelpunkt der Familie – aber das beinhaltet nicht nur viel Zuwendung, sondern auch hohe Ansprüche. Sie unterschätzen sich oft insgeheim – selbst wenn sie äußerlich auftrumpfen.
Man kann Alfred Adler getrost als Entdecker der Bedeutung der Geschwisterkonstellation bezeichnen. Wobei er stets vor Schematismus warnte – jeden einzelnen Fall gelte es individuell zu würdigen. Gelingt dies aber, so ist der ‘Blick durch die Geschwisterbrille’ eine große Hilfe, um etwa Lern- oder Kontaktschwierigkeiten von Schülern zu verstehen – aber auch eigene Probleme in Freundeskreis oder Liebesbeziehung.
Bild: “Alfred Adler – Die pädagogische Revolution in Österreich” (ORF3, 2019)
SINN
“Leben heißt: zum Ganzen etwas beitragen.”
Stellen wir uns ein erfülltes Leben nicht so vor: möglichst viel genießen, größtmöglichen Erfolg erzielen, tausend Freunde haben, nichts verpassen? Fragen wir uns aber nicht auch oft, warum uns Genüsse und Erfolge gar nicht so zufrieden machen wie erhofft?
Alfred Adler maß dem soziale Bezogensein des Menschen einen zentralen Wert für das Psychische bei. Und zwar in einem sehr vielfältigen Sinne: dass er zum Sozialsein überhaupt in der Lage sei (“angeborene Möglichkeit”); dass die Eltern diese Orientierung beim Kind aber aktiv entwickeln müssten (“erzieherische Aufgabe”); und dass es sich um eine ständige Notwendigkeit handele (“Forderung der Realität”). Denn jeder Mensch stände letztlich vor drei großen Lebensfragen: wie es ihm gelinge, mit anderen auszukommen (“Gemeinschaft”); wie er zum eigenen Unterhalt – und damit zu dem aller – beitrage (“Arbeit”); und wie er die Sorge für die Nachkommenschaft anpacke (“Liebe”). Die Haltung, die ein Mensch in diesen Bereichen zu seinen Artgenossen einnimmt, gilt aus individualpsychologischer Sicht als Gradmesser seines seelischen Wohlbefindens.
Für Adler war menschliche Sozialität keine Frage der Menge, sondern des Gehalts und der Zielsetzung. Mit “Gemeinschaftsgefühl” meinte er etwa die Fähigkeit, “mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen”. Nicht ob jemand viel redet oder ein stiller Typ ist, sage das Entscheidende über ihn aus – sondern ob sein Handeln auf das Gemeinwohl gerichtet ist; darauf, dass es allen ein wenig besser geht, dass die Gesellschaft als Ganzes Bestand habe oder sich sogar entwickeln könne.
Unter diesem Maßstab wird man manch Gewohntes noch einmal überdenken. ‘Selbstverwirklichung’ etwa, dieses laut postulierte Ideal unserer Tage – greift es vielleicht ohne Gemeinwohlorientierung doch zu kurz? Und müsste ‘Empathie’ nicht präzisiert werden – wo Einfühlung doch auch zur Manipulation missbraucht werden kann? Oder auch ‘Genie’: Kann ein begabter Mensch nicht höchste Nützlichkeit für die Allgemeinheit verkörpern – aber auch grauenhaftes Verderben? Adler fiel es nicht schwer zu unterscheiden: “Nur diejenige Intelligenz ist Vernunft, in der Gemeinschaftsgefühl enthalten ist.”
Entgegen der passiven Erwartung, der Sinn des Lebens sei vorgegeben, sieht die Individualpsychologie den Menschen vor die Aufgabe gestellt, seinem Leben einen solchen selbst zu geben. Diese Perspektive ermöglichte Adler verblüffende Empfehlungen. So riet er etwa einer Patienten mit Depressionen: “Ihre Lage ist nicht einfach. Aber wenn Sie es schaffen, zwei Wochen lang jeden Tag darüber nachzudenken, wie sie anderen Menschen eine Freude machen können, dann sind sie geheilt.”
Bild: brgdomath.com
PUBERTÄT
“Sicherlich gibt es in der Pubertät viele Gefahren, aber es ist nicht wahr, dass sie den Charakter verändert.”
“Plötzlich ist mein Sohn nicht wiederzuerkennen” oder “In der Pubertät wird das ganze Gehirn nochmal neu organisiert” – so werden die ‘schwierigen Jahre’ gerne kommentiert.
Alfred Adler sah die Sache entspannter. In der Adoleszenz gebe es zwar kognitive Reifungsprozesse, aber der Lebensstil eines Menschen verändere sich in dieser Entwicklungsphase nicht grundlegend. Allerdings spüre das Kind, dass jetzt größere Herausforderungen auf es zukämen – “es fühlt, dass es sich der Front des Lebens nähert”. Schwachstellen, die bisher unbeachtet blieben, könnten nun deutlicher zu Tage treten – empfundene oder tatsächliche Unzulänglichkeiten, mangelndes Aufgehobenfühlen bei Familie und Freunden, asoziale Haltungen. “Vielleicht fängt ein Kind, das vielversprechend war, jetzt an Angst zu haben, die Erwartungen zu enttäuschen, mit denen man es belastet hat.”
Außerdem wollten Heranwachsende ihrer Umwelt nun mit aller Macht zeigen, dass sie kein Kind mehr seien. Sie begännen, sich riskant zu verhalten, würden über die Stränge schlagen, je nach dem, was Erwachsensein für sie bedeute. Ein bislang gehorsames Kind werde auf Freiheit hoffen – und plötzlich gegen jede Einschränkung kämpfen. Ein verwöhntes Kind werde ahnen, dass die Eltern nicht mehr wie gewohnt für es einspringen – und könne sich in Mutlosigkeit flüchten. Ein Kind, das sich bisher zuhause vernachlässigt fühlte, könne sich in übertriebener Weise der Wertschätzung seiner peer-group unterwerfen.
Der Schlüssel zu einem glimpflichen Durchleben dieser Zeit liege nun gerade nicht darin, das pubertäre Auftrumpfen niederzuhalten – sondern ihm die destruktive Energie zu nehmen: “Wenn wir das Kind davon überzeugen könnten, daß es das [sein Erwachsenwerden, d.V.)] nicht zu beweisen braucht, würde der Situation eine große Portion Spannung genommen.” Je mehr man es aber kommandiere, ermahne und kritisiere, “desto stärker wird sein Eindruck, daß es vor einem Abgrund steht.”
Bild: getty/Ullstein
GESCHLECHT
“Mit zwei Jahren sollte einem Kind gesagt werden, dass es ein Junge oder ein Mädchen ist. Man sollte ihm auch erklären, dass sich das Geschlecht niemals ändern kann.”
Adler stand noch nicht im Bann der “Geschlechterverwirrung” (Judith Butler), wie sie seit Ende des 20. Jahrhunderts um sich greift. Für ihn als Arzt war selbstverständlich, dass genau zwei biologische Geschlechter existieren, dass es aber auch mehrere sexuelle Orientierungen gibt (heterosexuell als Normalfall, homosexuell als Normvariante) – und dass Menschen darüber hinaus ein Kontinuum an psychosozialen Rollen bereit steht.
Mann und Frau sah Adler als völlig gleichwertige menschliche Wesen – darin war er seiner Zeit weit voraus. Er beobachtete indes, dass sich viele seiner Patienten mit dem Verhältnis zum anderen Geschlecht schwer taten: Männer fürchteten, dem damals verbreiteten Anspruch an Männlichkeit nicht genügen zu können; Frauen revoltierten gegen die Minderwertigkeit des Weiblichen – und sei es nur eine vermeintliche, ‘dank’ der jahrhundertelang praktizierten Geschlechterunwucht. Solche Verunsicherungen prägen das Verhältnis der Geschlechter bis heute.
Adler empfahl Eltern deshalb, ihren Kindern eine ebenso gleichwertige wie liebevolle Beziehung vorleben. Und ihnen schon frühzeitig die Gewissheit zu vermitteln, dass es schön sei, ein Mädchen, ein Junge zu sein; dass sie im Laufe der Zeit zu Frau und Mann heranreifen würden; und dass beide Geschlechter unverzichtbar für das menschliche Zusammenleben sind.